Begleitung am Gerichtshof in Tegucigalpa. Der verhandelte Gerichtsfall.

Begleitung am Gerichtshof in Tegucigalpa. Der verhandelte Gerichtsfall.

Von Marcel Anderegg

Erster Text der Reihe «Augenzeug*innenberichte in der Retrospektive» zu 20 Jahren PWS

Marcel Anderegg war im Jahr 2014 während 6 Monaten PWS-Einsatzleistender im Projekt PROAH in Honduras. PWS war von 2011 bis 2015 an diesem Projekt beteiligt. Marcel ist Agronom (ETH) und leitet heute den Verband der Schweizer Agrar- und Lebensmittelwissenschafter*innen (SVIAL).
Es war ein Gewaltvorfall, wie er in Honduras fast täglich vorkommt: An einem Abend Ende Mai 2012 schlich sich der fünfzehnjährige Ebed Jassiel Yánez aus seinem Elternhaus, um seine Freundin zu treffen. Ohne Erlaubnis des Vaters nahm er dessen Motorrad und machte sich auf den Weg durch das finstere Tegucigalpa. Es war Liebe, die ihn zu dieser Aktion verleitete, welche ein trauriges Ende nahm. Am Ziel angekommen, wartete er vergeblich, weil es seine Liebste nicht schaffte, sich unbemerkt nach draussen zu begeben. Daraufhin machte sich der Junge auf den Heimweg, wobei er einen mobilen Militärkontrollposten übersah und ohne anzuhalten passierte.
Aufgaben im Einsatz in Honduras:
Physische und telefonische Begleitung von ländlichen Gemeinden, ihren Basisorganisationen und von Menschenrechtsverteidiger*innen; Dokumentation und Berichterstattung für die PWS-Informationsarbeit, Kooperation mit anderen Akteur*innen

Der befehlshabende Oberleutnant nahm mit seiner schwer bewaffneten und vermummten Truppe die Verfolgung auf. Sie wollten den Motorradfahrer stoppen und eröffneten bereits nach wenigen Metern das Feuer. Nachdem der Junge von einer Kugel, die via Hals in den Kopf eintrat, getroffen wurde, stürzte er zu Boden. Die Soldaten hielten kurz an und verliessen den Tatort augenblicklich, anstatt Hilfe zu holen. Ungefähr zwei Stunden später kehrten sie zurück, um die herumliegenden Patronenhülsen einzusammeln. Diese warfen auf der Rückfahrt aus dem Auto. Glücklicherweise konnte aber ein Zeuge zwei dieser Hülsen auffinden und die ballistische Untersuchung ergab anschliessend, dass eine davon zum tödlichen Projektil gehörte, welches mit der Waffe von Elezear Abimael Rodríguez abgefeuert wurde. Er wurde deswegen von der Staatsanwaltschaft wegen Tötung und Missbrauch der Amtsgewalt angeklagt und am 15. März 2015 zu 16 Jahren Gefängnis verurteilt.

Internationalen Menschenrechtsbegleiter*innen von PROAH begleiten den Gerichtsfall

Die Familie Yánez wurde vor Gericht neben der Staatsanwaltschaft auch von der Anwältin Karol Cárdenas der Menschenrechtsorgani-sation COFADEH (Comite de Familiares de Detenidos-Desaparecidos en Honduras) vertreten und seit der ersten Anhörung im Juni 2012 von Freiwilligen von PWS/PROAH begleitet. Während meinem Einsatz im Herbst 2014 habe ich diese Aufgabe übernommen und somit viele Stunden an der Seite von Don Wilfredo Yánez, dem Vater des Opfers, und Karol verbracht. Am Anfang tat ich mich etwas schwer, den Verhandlungen zu folgen. Einerseits hatte ich kaum Ahnung vom honduranischen Justizsystem, das sehr komplex ist. Andererseits kannte ich die vielen juristischen Fachbegriffe (noch) nicht. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, und hoffte, bereits mit meiner Anwesenheit etwas zu bewirken. Dieser Prozess wurde ein wichtiger Teil des Lebensinhalts von Don Wilfredo, aber er erwähnte wiederholt, dass er keine Vergeltung möchte, sondern einzig und allein Gerechtigkeit. Er bedankte sich immer sehr herzlich für unsere Begleitung und war davon überzeugt, dass internationale Beobachtung und Präsenz einen Effekt haben.

Die Eltern Yánez mit Bild ihres getöteten Sohnes. Foto: PWS/Marcel Anderegg 2014

Der Prozess war vor allem für die Angehörigen sehr anstrengend. Wie in vielen Gerichtsverfahren wurden immer wieder Verhandlungen verschoben, der ganze Prozess verlangsamt, die Beweise, welche die Anklageseite vortrug, diskreditiert und versucht, Verwirrung zu stiften. Dies sind bekannte Strategien der Anwälte der staatlichen Streitkräfte. Es war ein sinnbildlicher Fall und man hoffte, dass neben dem ausführenden Täter auch weitere Verantwortliche zur Rechenschafft gezogen würden. Die Tötung des Jungen konnte nicht verneint werden, weil es eine Leiche gab. Den Kopf hinhalten musste aber am Ende wieder ein einzelner Soldat.

Niederlage oder Gerechtigkeit?

Immerhin kam es zu einer Verurteilung, was in einem Land, wo von 100 Tötungsfällen gerade einmal deren vier vollständig aufgeklärt werden, schon als Erfolg betrachtet werden kann. Aber wenn diejenigen, welche die Befehle geben, ständig auf freiem Fuss und an der Macht bleiben, wird sich an der Gesamtsituation leider nicht so schnell etwas ändern bzw. hat sich auch seit meiner Zeit vor Ort leider nicht viel geändert. Der Abschied von Don Wilfredo Yánez am Ende meines Einsatzes war ein spezieller Moment. Er war eine beeindruckende Persönlichkeit. Leider ist er in der Zwischenzeit einem Krebsleiden erlegen.

Die Eltern Yánez im Gespräch mit der Anwältin Karol Cárdenas. Foto: PWS/Marcel Anderegg 2014

Besondere Erinnerung aus den Gerichtssälen in Tegucigalpa

Da wir als neutrale Beobachter vor Ort waren, begann ich in den Pausen auch mal mit dem Anwalt der Streitkräfte zu reden. Er war immer sehr freundlich mit mir, der Austausch anregend und er äusserte sogar Bewunderung für unser Engagement. Aber er bezeichnete unsere Arbeit auch als gefährlich, was man auch als subtile Drohung hätte wahrnehmen können, mir in diesem Moment aber nicht bewusst war.[1] Eine spezielle Situation ereignete sich am Morgen vor der Urteilsverkündung. Einer der Angeklagten erschien in voller Militärausgangsuniform. Wir waren bereits etwas früher dort und ich fragte ihn, ob ich ein Foto machen dürfte. Er bejahte und posierte stolz. Als seine Anwälte eintrafen, schickten sie ihn ziemlich empört nach Hause und er kam in ziviler Kleidung zurück. Es sollte schliesslich nicht das Bild entstehen, dass das Militär angeklagt ist. Als ich daraufhin in einer Pause auf die Toilette ging, folgte er mir und bat mich inständig das Foto zu löschen, was ich unverzüglich tat.

„Kugeln bilden und erziehen nicht. Kugeln töten.“ Ein Graffito in Tegucigalpa, das leider nur zu gut zur Realität passt. Foto: PWS/Marcel Anderegg 2014

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[1] Drohungen und Anspielungen auf die fehlende Legitimation für seine Präsenz hat das Projekt PROAH mehrmals erhalten. Für den Aufbau des Projekts ACO-H hat PWS daraus die Lehren gezogen. PWS ist heute in Honduras formaljuristisch akkreditiert und darum für die Arbeit an staatlichen Institutionen wie den Gerichten oder im öffentlichen Raum legitimiert.