Interview mit unseren Menschenrechtsbegleiterinnen
Interview mit unseren Menschenrechtsbegleiterinnen

PWS: Was hat dich motiviert, einen Abklärungseinsatz für PWS in Osttimor zu leisten und wie hast du dich darauf vorbereitet?
Angela: „Vor zehn Jahren habe ich für PWS in Honduras gearbeitet, zuerst als Volontärin und später in der Projektkoordination. In dieser Zeit hat sich unser Projekt neu orientiert – eine spannende, aber auch herausfordernde Phase. Diese Erfahrung hat mich geprägt und ich war motiviert, wieder für PWS zu arbeiten, diesmal in einem innovativen Abklärungseinsatz. Da ich den asiatischen Raum nicht kannte, war es für mich eine Gelegenheit, tief in eine neue Kultur und Geschichte einzutauchen“.
Pia: „Osttimor war für mich völliges Neuland. Da ich nur eine vage Vorstellung von Land und Gesellschaft hatte, habe ich mich intensiv mit der Geschichte, Wirtschaft, Kultur und den Lebensbedingungen vor Ort auseinandergesetzt. Da einer unserer Schwerpunkte die Menschenrechte im Strafvollzug waren, musste ich mich auch in dieses Thema einarbeiten. Die Sprache war mir auch fremd, so dass ich ein Handbuch des US Peace Corps fand, um mir Grundkenntnisse in Tetun, einer der Landessprachen, anzueignen“.
PWS: Welche besonderen Herausforderungen hast du während deines Einsatzes erlebt und wie bist du damit umgegangen?
Angela: „Die grösste Herausforderung für mich war die Sprachbarriere. Wir haben mit einem Übersetzer gearbeitet, was für mich Neuland war. Oft erfährt man zwischen den Zeilen viel über die Gedanken und Gefühle der Menschen, aber diese Feinheiten gehen in der Übersetzung oft verloren. Mir fehlten auch die Alltagsgespräche mit den Mitarbeitenden von HAK (unserer Partnerorganisation) und die typischen Anekdoten, die man von Taxifahrern hört und die einem helfen, die Kultur besser zu verstehen. Zudem war der Alltag viel entschleunigter als in der Schweiz – ein grosser Unterschied, der mir aber auch gut getan hat“.
Pia: „Die Sprachbarriere war auch für mich die grösste Herausforderung, obwohl wir einen sehr engagierten Dolmetscher hatten. Zum Glück wurde Tetun kurz nach unserer Ankunft in Google Translate aufgenommen, was den Alltag erleichterte. Auch das tropische Klima und der ständig hohe Lärmpegel waren ungewohnt und erforderten viel Geduld. Die einfachen Wohnverhältnisse und das langsame Internet waren eine zusätzliche Umstellung, die ich aber als Teil des Abenteuers annahm“.
PWS: Was ist dir besonders aufgefallen oder hat dich beeindruckt?
Angela: „Osttimor ist ein Land voller Überraschungen! Trotz seiner gewalttätigen Vergangenheit ist es ein sehr friedliches und sicheres Land. Die Menschen sind sehr freundlich und stolz auf ihre Unabhängigkeit. Ein besonders kurioses Erlebnis war die Fussball-Europameisterschaft: Als Portugal (ehemalige Kolonialmacht) spielte, wurde Dili mit portugiesischen Fahnen überschwemmt. Die Spiele wurden sogar mitten in der Nacht auf Grossleinwänden übertragen, die Hauptstraße vor dem Regierungssitz wurde gesperrt und die Stadt war im Fußballfieber – ein unvergesslicher Anblick! “
Pia: „Ich war tief beeindruckt von dem Engagement der Frauen, die sich gegen sexuelle Gewalt in Osttimor einsetzen. Ich hatte zwar gelesen, dass Gewalt gegen Frauen und Kinder weit verbreitet ist, aber das Ausmass hat mich doch erschüttert. In einem Land, in dem konservative Stimmen so viel Gewicht haben, ist es bewundernswert, wie mutig sich die Frauen für die Betroffenen einsetzen, um ihnen zu einem selbstbestimmten Leben zu verhelfen“.
PWS: Was nimmst du von dieser Erfahrung mit?
Angela: „Die Entschleunigung und das bewusste Erleben des Moments sind für mich die wertvollsten Lektionen. Das Leben in Osttimor ist langsamer, was mich dazu gebracht hat, intensiver im Hier und Jetzt zu leben – etwas, das ich versuche, in meinen Schweizer Alltag mitzunehmen, auch wenn es oft schwierig ist. Der Einsatz hat mir einmal mehr gezeigt, dass grosse gesellschaftliche Veränderungen oft durch politische Prozesse initiiert werden müssen. Diese Erkenntnis hat mich darin bestärkt, mich weiterhin politisch zu engagieren, auch hier in der Schweiz“.
Unsere beiden Freiwilligen blicken auf einen lehrreichen und prägenden Einsatz in Osttimor zurück. Sie haben wertvolle Einblicke in ein fremdes Land gewonnen, Herausforderungen gemeistert und durch ihre Erfahrungen neue Perspektiven für PWS geschaffen. Wir bedanken uns herzlich für Ihren Einsatz. In den kommenden Monaten wird PWS entscheiden, ob wir unsere Menschenrechtsarbeit in Osttimor fortsetzen werden.
Chega! Genug! Osttimor verarbeitet seine blutige Vergangenheit
Chega! Genug! Osttimor verarbeitet seine blutige Vergangenheit
Von Angela Escher. Dili, Timor-Leste
Die Sonne brennt auf unsere Köpfe. Es ist zwar später Nachmittag, aber ihre Strahlen treffen immer noch steil auf Dili herab. Wir steigen über die verschiedenen Gräber, als wären wir auf einer Bergtour und müssten einen Schutthaufen überqueren. Glatte, weisse Platten, abgebrochene Betonklötze, zerbrochene schwarze Platten. Die Menschen auf dem Santa Cruz Friedhof mitten in der Stadt Dili werden eng nebeneinander begraben. Manche Grabstätten sind klein, einzelne ähneln einem Tempel. Kerzen sind selten, da dessen Wachs durch die Sonne innerhalb weniger Minuten schmelzen und somit zerrinnen würde. Damit die Verstorbenen stets Licht haben, werden einige Gräber alternativ mit einem Solarlicht und eigener Solarpanel ausgestattet. Wir suchen das Grab des Unabhängigkeitsaktivisten Sebastião Gomes. Der Student starb in der Nacht vom 28. Oktober 1991 und wurde auf dem Santa Cruz Friedhof begraben. Die indonesischen Soldaten erschossen ihn während den Vorbereitungen zu einer Demonstration in der Motael Kirche.

Zwei Wochen nach dem Mord an Sebastião Gomes liefen 3’000-4’000 friedlich Demonstrierende zu seinem Gedenken von der Motael Kirche zum Friedhof. Zum ersten Mal forderten die jungen Demonstrierenden öffentlich und direkt ihr Selbstbestimmungsrecht ein. Am Strassenrand standen bewaffnete indonesische Soldaten, Polizisten und Geheimdienstler, die den Marsch beobachteten. Kaum auf dem Friedhof angekommen, wurden die Demonstrierenden von bewaffneten Soldaten umzingelt und gewaltvoll angegriffen. Eine viertel Stunde später nahmen die Sicherheitskräfte über 300 Demonstrierende fest. Mindestens 271 Menschen wurden bei diesem Überfall getötet, rund 250 Menschen vermisst. Max Stahl, ein britischer Journalist, filmte das Massaker zufälligerweise, liess anschliessend das Filmmaterial aus dem Land schmuggeln und publizieren. Die Ausstrahlung der verstörenden Bilder von Soldaten, die auf unbewaffnete Zivilisten schossen, lösten weltweit Entrüstung aus und bildete den entscheidenden Wendepunkt in der internationalen Wahrnehmung des Konflikts [CAVR-Report – Chega! 2010].

Bis zur osttimoresischen Unabhängigkeit im Jahr 2002 verübte die indonesische Besatzungsmacht etliche weitere Massaker. Rund ein Drittel der Bevölkerung wurde vertrieben oder starb. Aus diesem Grund richteten die Vereinten Nationen und die Regierung Osttimors mit Zustimmung Indonesiens zu Beginn der Unabhängigkeit verschiedene Institutionen ein, die die zahlreichen Gräueltaten und Menschenrechtsverletzungen des Bürgerkrieges 1974-75 und der anschliessenden Besatzungszeit durch Indonesiens 1975-99 untersuchten. Zwei Kommissionen zur Wahrheitsfindung entstanden: die Wahrheits- und Versöhnungskommission (CAVR) und etwas später die Wahrheits- und Freundschaftskommission (CTF).
Über 7’600 Osttimoresen und -timoresinnen äusserten sich vor der CAVR-Kommission, wobei rund 80% Opfer und Überlebende von Massakern waren. Etwa 10-15% der Aussagen stammten von Zeugen und 5-10% von Tätern. Die Mehrheit der Aussagen kam von Männern und ein Viertel von Frauen. Da die CAVR zeitlich und finanziell begrenzt war, legten nur etwa 1% der osttimoresischen Bevölkerung Zeugnis ab. Die Liste der dokumentierten Gräueltaten ist lang und umfasst illegale Verhaftungen, Folter, Hinrichtungen, sexuellen Missbrauch, das Verschwindenlassen von Personen und Zwangsumsiedlungen. Auch die Liste der Massaker – insbesondere im Jahr des Referendums 1999 – ist lang. Die Wahrheits- und Versöhnungskommission veröffentlichte die Zeugenaussagen in fünf Bänden unter dem Titel „Chega!“ (Genug!) und gab 204 Empfehlungen ab.

Die Gewalt während des Bürgerkriegs 1974-75 ging grösstenteils von osttimoresischen Parteien aus, nach der Invasion von Indonesien im Dezember 1975 vor allem vom indonesischen Militär. Nur wenige Täter, darunter einige Militäroffiziere, der frühere osttimoresische Gouverneur und ein paar Milizführer, wurden angeklagt. Die meisten von ihnen begnadigte der Präsident José Ramos-Horta im Jahr 2008. Um die freundschaftlichen Beziehungen zu Indonesien nicht zu gefährden, entschied sich die osttimoresische Regierung gegen die strafrechtliche Verfolgung von Menschenrechtsverbrechen und gegen ein internationales Tribunal. Stattdessen unterzeichnete sie ein Abkommen zur Einrichtung einer gemeinsamen Wahrheits- und Freundschaftskommission (CTF) mit Indonesien. Diese veröffentlichte ähnliche Empfehlungen wie die CAVR-Kommission [Klocker 2012]. 2008 gestand Indonesien Kriegsverbrechen ein und drückte Bedauern aus, eine formelle Entschuldigung erfolgte jedoch nie [Watch Indonesia! 2008].
Die Regierung gründete 2017 das Forschungs- und Bildungszentrum Centro Nacional Chega! (CNC), um die Dokumente der CAVR-Kommission zu verwalten und sicherzustellen, dass Osttimor zukünftig gewaltfrei bleibt. „Wir arbeiten eng mit Lehrpersonen zusammen und bilden diese zu den Ereignissen während der indonesischen Besatzungszeit aus oder führen Schüler:innen hier in unserem eigenen Museum umher. So bleiben die Geschehnisse in Erinnerung und werden hoffentlich nicht wiederholt“, erklärt uns Hugo Maria Fernandes, Direktor vom CNC, bei unserem Besuch im Zentrum. Zudem setzen sie sich ein, dass die Empfehlungen der zwei Wahrheitskommissionen (CAVR und CTF) umgesetzt werden.

Der Versöhnungsprozess gilt als gescheiter. Die Regierung bemüht sich spärlich, um dies zu ändern. Innerhalb der Zivilgesellschaft jedoch kurbeln unterschiedliche Nichtregierungsorganisationen (NGO) den eigenen Versöhnungsprozess an, da immer noch die Sehnsucht nach Gerechtigkeit besteht. Beispielsweise unterstützt AcBIT diejenigen Frauen, die während der Besatzungszeit gewaltvoll missbraucht wurden. „Wenn wir mit diesen Frauen arbeiten, nennen wir sie bewusst „Überlebende“ und nicht „Opfer“. So können wir sie stärken und ihnen eine Zukunftsperspektive aufzeigen“, bekräftigt Manuela Leong Pereira, Direktorin von AcBIT. Auch unsere Partnerorganisation HAK führt innerhalb einer Arbeitsgruppe mit weiteren NGOs und unter der Leitung von AJAR ein Projekt zur Versöhnung aus: Während der indonesischen Besatzungszeit wurden schätzungsweise 4’500 osttimoresische Kinder hauptsächlich nach Indonesien verschleppt. Über Hundert dieser Kinder, die inzwischen Erwachsen sind, konnten mit ihren Familien in Osttimor zusammengeführt werden [AJAR-TL 2024].

Die breite Öffentlichkeit miteinbeziehen ist den Organisationen in Osttimor wichtig. CNC organisierte beispielsweise zum fünfzigsten Jahrestag der Nelkenrevolution, die das Ende der Kolonialzeiten ebnete, im April 2024 einen Anlass, an dem junge Künstler:innen ein riesiges Wandbild kreierten und weihten dies zusammen mit dem Ombudsman ein. Oder AJAR bildet gezielt, mittels einer eigenen Schule, junge Menschen in der Thematik der Menschenrechte aus. Die neue Generation wächst also im Bewusstsein heran, dass genug ist mit Massaker und Gewalt, und dass der Boden für eine gerechte Zukunft geschaffen werden muss!

Filmtipps
- BLOODSHOT: THE DREAMS & NIGHTMARES OF EAST TIMOR (2011) von Peter A. Gordon mit Max Stahl als Kameramann
- BEATRIZ’S WAR (2013) von Luigi Acquisto und Bety Reis
- MEMORIA (2016) von Kamila Andini
Literaturhinweise
- AJAR Timor Leste: Stolen Children; https://stolenchildren.asia-ajar.org/ [Online 12.07.2024]
- CAVR Report – Chega! (2010): The final report of the Timor-Leste Commission for Reception, Truth and Reconciliation (CAVR); Jakarta.
- Klocker, Daniela Sarah (2012): Die Gespenster der Vergangenheit. Osttimors Aufarbeitung der Vergangenheit auf der Suche nach einem stabilen Frieden. Eine Literaturanalyse; Diplomarbeit Universität Wien.
- Schlicher, Monika (2005): Osttimor stellt sich seiner Vergangenheit. Die Arbeit der Empfangs-, Wahrheits- und Versöhnungskommission; Menschenrechte 25. Aachen: missio.
- Watch Indonesia! (2008): Indonesia regrets human rights violations in East Timor; https://www.watchindonesia.de/3582/indonesia-regrets-human-rights-violations-in-east-timor?lang=en [Online 12.07.2024]
Hinter der Mauer – Gefängnisansicht von innen
Hinter der Mauer – Gefängnisansicht von innen
Von Pia Caduff. Dili, Timor-Leste
Von den 1.3 Millionen Timores:innen leben zurzeit 627 in den Gefängnissen von Becora, Gleno und Suai, darunter 17 Frauen. Von den 627 Inhaftierten, befinden sich 95 Menschen in Untersuchungshaft. Die Hälfte der Gefangenen wurde wegen Sexualdelikten verurteilt, weitere 30% wegen Mordes (Stand 18. Januar 2024)[1]. Wir konnten die Strafanstalten im Rahmen des Monitoring-Programmes von HAK Ende April ein erstes Mal besuchen. Eine zweite Besuchsrunde hat soeben begonnen und wird in der dritten Juliwoche beendet sein.
Die Gebäude stammen zum grössten Teil aus der indonesischen Besatzungszeit und wurden schon damals als Haftanstalten genutzt. Das timoresische Strafvollzugsystem entstand jedoch erst nach Ende der Besatzung mit UN-Hilfe.
Das Gefängnis in Becora, einem Stadtteil von Dili, ist das grösste und mit 1.7 Personen pro verfügbaren Platz auch die Anstalt mit der höchsten Überbelegung. Das führt unter anderem dazu, dass Räumlichkeiten, die der Beschäftigung und Freizeitgestaltung dienen sollten, wie zum Beispiel die Bibliothek, zweckentfremdet und zu Zellen umgenutzt werden müssen.
In Becora sind in der Regel nur Männer untergebracht. Sollte eine Frau aus verschiedenen Gründen hier inhaftiert sein, wird ihr ein Raum in einem administrativen Gebäude zugeteilt. Die männlichen jugendlichen Straftäter (18 bis 21 Jahre alt bei Verurteilung) befinden sind ebenfalls in einem separaten Zellen Block in Becora. Verurteile Jugendliche werden von der Strafanstalt weiterhin administrativ als solche geführt, auch wenn der betroffene Mensch inzwischen das Erwachsenenalter erreicht hat. Dies erschwert eine Interpretation der Statistiken. Laut timoresischem Strafrecht können Jugendliche unter 17 Jahren nicht zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden. Weil in Timor-Leste kein Jugendstrafrecht in Kraft ist, werden, gemäss Auskunft des Ombudsmanns, straffällige Jugendlichen unter 17 Jahren nicht für ihre Taten belangt. Auch könnten die Jugendlichen bei einer Verurteilung nirgendwo untergebracht werden. Eine Jugenderziehungsanstalt ist schon länger in Planung, deren Realisierung ist aber nicht absehbar.

Ein Gefängnisbesuch mit HAK läuft eigentlich immer nach dem gleichen Schema ab: Wir müssen uns registrieren und werden vom Gefängnisdirektor zu einem Gespräch eingeladen. Danach erhalten die HAK-Mitarbeitenden das aktuelle Register der Häftlinge und wählen, welche sie am Nachmittag interviewen möchten. Darauf folgt ein Gefängnisrundgang, wobei der Direktor entscheidet, welche Bereiche besichtigt werden dürfen. Fotografieren ist nicht gestattet. Nach dem Mittagessen, das ausserhalb des Gefängnisses eingenommen wird, folgen die Interviews, die das HAK-Team mittels eines standardisierten Fragebogens durchführt.

Auf dem Rundgang können wir nur das Krankenzimmer und die Küche besuchen, jedoch keine Zellen oder sanitären Einrichtungen. Im Krankenzimmer gibt uns der verantwortliche Angestellte (Krankenpfleger) Auskunft und wir können die gesamte Ausstattung, inklusive der Apotheke, «unter die Lupe nehmen». Das Krankenzimmer weist eine minimale Ausrüstung aus, die Medikamente, die gerade den Grundbedarf decken, sind trocken, aber nicht kühl gelagert. Ein Arzt kommt bei Bedarf, Notfälle müssen ins Krankenhaus eingewiesen werden.
Auch die Küche stammt noch aus der indonesischen Besatzungszeit und ist schwer verrusst, da auf offener Flamme gekocht wird. Die Decke wurde zum Teil entfernt, um die Luftzirkulation zu verbessern. In den Tiefkühltruhen lagern Fleisch und Fisch ohne jegliche Verpackung, dafür mit ausgedehntem Gefrierbrand. In der Küche hat es auch Matratzen, die darauf hinweisen, dass hier Menschen nicht nur arbeiten, sondern auch schlafen. Die Insassen erhalten drei Mahlzeiten pro Tag, nach einem für alle drei Haftanstalten zentral geplanten Menüplan. Geliefert werden die Lebensmittel von einer einzigen Firma in Dili. Da Becora am nächsten liegt, wird diese Anstalt auch am besten beliefert.

In Gleno, eine gute Autostunde von Dili entfernt, sind neben Männern und Jugendlichen auch Frauen inhaftiert und die Überbelegung war zur Zeit unseres Besuches minimal. Im Gegensatz zu Becora können wir in Gleno das gesamte Gelände und alle Gebäude besichtigen. Der grosse Stolz sollte eigentlich der neue, von der UN finanzierte Frauentrakt sein, der vor weniger als einem Jahr eingeweiht wurde. Hier sind nicht acht bis zehn Personen pro Zelle untergebracht, sondern zwei bis vier, mit «eigener Nasszelle», d.h. eine Toilette, ohne jeglichen Schutz der Privatsphäre, und eine Dusche. Von den acht Nasszellen sind allerdings drei ausser Betrieb. Sitzgelegenheiten zum Esstisch fehlen zum Teil ganz oder sind beschädigt. Die Decke ist teilweise eingebrochen.
Als wir die Zellen-Blöcke besichtigen, wird gerade das Mittagessen verteilt: Reis, etwas Gemüse und Hühnerfleisch, das eindeutig verdorben riecht. Der Gefängnisdirektor berichtet über ungenügende und qualitative schlechte Lebensmittellieferungen. In den Interviews am Nachmittag berichten junge männliche Gefangene über knappe Rationen. Auf dem Gelände wird etwas Gemüse angebaut, das die Lieferungen ergänzt.

Um nach Suai ins dritte Gefängnis des Landes zu kommen, müssen wir uns bereits am Vortag auf den Weg machen. Obwohl nur 170 km von Dili entfernt, dauert die Fahrt sechs bis sieben Stunden, da Bergen überwunden werden müssen und die Strasse in der Regenzeit zum Teil schwer beschädigt und schlecht befahrbar wurde. Das erschwert natürlich nicht nur unsere Reise, sondern auch die Lebensmittellieferungen aus Dili.
In Suai ist der Direktor auch sehr grosszügig und zeigt uns nicht nur «jede Ecke» der Anstalt, sondern auch die Unterkünfte des Personals. In Suai wird ebenfalls Gemüse angebaut, was dringend nötig ist, denn die Lieferungen aus Dili kommen nur zum Teil an und das Gemüse ist oft bereits verdorben. Der Direktor berichtet, dass die Lieferungen auch schon eine ganze Woche lang ausgefallen seien und es nur noch Reis und das selbst gezogene Gemüse gegeben hätte. Wie in Gleno ist auch das Gefängnis in Suai zwar voll, aber nicht signifikant überbelegt. Während der Regenzeit werden die Schlafplätze in den Zellen regelmässig durchnässt und das ganze Gefängnis musste angeblich schon einmal wegen Überflutung auf den kleinen lokalen Flugplatz evakuiert werden. Toilettenartikel werden, wie in den beiden anderen Gefängnissen seit Monaten nicht mehr geliefert, da sich die Regierung nicht um die Ausschreibung für deren Beschaffung kümmert. Die Uniformen des Personals «fallen auseinander» und werden zum Teil von Häftlingen geflickt, die eine der beiden vorhandenen Nähmaschinen bedienen können. Die Personalunterkünfte, ebenfalls aus der indonesischen Besatzungszeit stammend, mussten vom Personal selbst auf eigene Kosten in Stand gesetzt werden.

Die Mängelliste im Strafvollzug ist lang und betrifft nicht nur die Infrastruktur: Viele der Inhaftierten sehen ihre Pflichtverteidiger:innen erst im Gerichtssaal und kennen oft nicht einmal deren Namen. Einen privaten Rechtsbeistand können sich nur die wenigsten leisten. Obwohl ein Gefängnisreglement existiert, ist es schlecht zugänglich und die Handhabung der Besuchszeiten und Telefonate nach Hause obliegt oft allein dem Personal. Auch wenn Besuche wöchentlich möglich wären, ist der oft beschwerliche Weg für viele Familien zu weit. Die Beschäftigungsmöglichkeiten sind sehr beschränkt und scheitern entweder an fehlendem Material oder an der unzureichenden Wartung der Infrastruktur. Weiterbildungsmöglichkeiten, speziell für Jugendliche, sind sehr dünn gesät. Allein in Gleno findet regelmässig ein Alphabetisierungskurs statt. Längere Gefängnisaufenthalte als nötig kommen nicht selten vor: Teilweise braucht es im Heimatdorf erst ein Schlichtungsverfahren, bevor eine Rückkehr möglich ist, was Zeit beansprucht.
Der von HAK verwendete, standardisierte Fragebogen ist stark auf formale Aspekte ausgerichtet. Die HAK-Mitarbeitenden halten sich strikt daran und es wird zwar ausgiebig nach Zugang zu Pflichtverteidigung und Kenntnisstand der inhaftierten Person zum Verfahren gefragt, aber weniger oder gar nicht nach anderen Problemen, wie z.B. Hierarchien unter den Gefangenen oder ob Privilegien erteilt oder entzogen werden. HAK befragt bei jedem Besuch andere Insassen:innen, so dass zu einzelnen Personen kaum das Vertrauen aufgebaut werden kann, das notwendig wäre, um heiklere Probleme anzusprechen. Ebenso wenig regt HAK Untersuchungen an, wenn in Interviews Missstände wie Gewaltanwendung durch das Personal erwähnt werden; es wird alles aufgeschrieben und vielleicht dem Ombudsmann gemeldet oder an der alle drei Monate stattfindenden Sitzung des Gefängnisnetzwerkes vorgebracht.
Während nur gelegentlich über Gewalt im Gefängnis selbst berichtet wird, soll es doch regelmässig zu unangemessener Gewaltanwendung seitens der Polizei bei Verhaftungen und Erstbefragungen auf den Polizeiposten kommen. Obwohl das Personal in den Anstalten unterbesetzt ist, kommt es angeblich sehr selten zu Fluchtversuchen. Eine auf Menschenrechte spezialisierte Juristin meinte dazu: «Im Strafvollzug erhalten die Menschen dreimal pro Tag zu essen. Das ist oft mehr als es in ihrem Dorf gibt.»
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[1] Kondisaun Direitus Umanus Prizaun Becora, Gleno no Suai. Resultadu Monitorizaun HAK iha tinan 2023-2024

Osttimor regelt seinen Landbesitz
Osttimor regelt seinen Landbesitz
Von Angela Escher. Dili, Timor-Leste
Julian dos Santos, aus Bidau Santa-Ana-Stadtteil von Dili, erklärt an der Pressekonferenz am 22. April 2024 mit klarer Stimme, wie die Behörden in seinem Stadtteil vorgegangen sind, um dieses zu räumen. Es ist der internationale Tag der Erde. Das nationale Netzwerk für Landrechte[1], dem HAK und weitere 23 NGOs angehören, organisiert die Pressekonferenz, um auf die aktuelle Situation der Landrechte in Osttimor aufmerksam zu machen. Die Regierung räumt aktuell landesweit Häuser. Anfangs September wird der Papst Dili besuchen und hierfür wird die Stadt hergerichtet: Gehsteige und Strassen werden repariert, Strassenhändler verscheucht und illegal (wie teils auch legal) erstellte Quartiere geräumt. Die Bewohner:innen erhalten keine alternative Wohnmöglichkeit. Einen Masterplan, der die Bevölkerung über ihr Vorhaben informiert, gibt es nicht. Während der Zwangsräumung werden zudem ihre Rechte nicht respektiert, die ihre Menschenwürde und Sicherheit garantieren sollten. Julian dos Santos Haus wurde geräumt, als es regnete. Schulbücher und Kleider der Kinder wurden nass und von den Trümmern der zerstörten Gebäude bedeckt. In seinem Quartier zerstörten sie 16 Häuser gewaltvoll.

Gemäss der timoresischen Verfassung, hat „[j]eder (…) für sich und seine Familie das Recht auf eine Wohnung von angemessener Grösse, die ausreichenden hygienischen und komfortablen Ansprüchen genügt und die persönliche und familiäre Intimsphäre wahrt“. Die Regierung liess im April vier Stadtteile gewaltvoll räumen und vertrieb so mehr als 70 Haushalte mit je 10-15 Bewohner:innen und über 300 Marktverkäufer:innen. Weitere Räumungen von rund 300 Häusern stehen an. Die Menschen stehen nach der Räumung ihrer Häuser auf der Strasse; Nichts, das in Artikel 58 der Verfassung garantiert ist, wird eingehalten.

Landbesitz in Osttimor
Timoresischer Landbesitz ist ein komplexes Thema. Der grösste Teil des Bodens in Osttimor wird traditionell bewirtschaftet und gehört einer Gemeinschaft oder einem Familienclan. Auch Einzelpersonen besitzen Boden. Manche haben zwar keine Urkunden, aber schon mehrere Generationen ihrer Familie lebten auf dem Grundstück. Während der portugiesischen Kolonialzeit oder der darauffolgenden Besatzungszeit Indonesiens stellten die jeweiligen Behörden Urkunden aus. Weitere Urkunden wurden nach dem Referendum zur Unabhängigkeit 1999 erstellt, während die UNO Osttimor verwaltete.
Während der portugiesischen Kolonialzeit hatten einige kein Geld, um die Besitzurkunde zu kaufen, weshalb sie nie eine Urkunde besassen. Viele Menschen flüchteten während der Besatzungszeit oder wurden zwangsumgesiedelt und verloren so alles. Zudem wurden Grundbücher während den Aufständen verbrannt. Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit 2002 bestanden bei weniger als 5% des Landes klare Besitzverhältnisse; Grundbücher waren keine mehr vorhanden.
Die Regierung Osttimors geht die Herausforderung des Bodenbesitzes an. In der Verfassung wird festgehalten, dass nur timoresische Staatsbürger:innen Boden besitzen dürfen. Ausländer:innen und ausländische Organisationen müssen ihren Boden an den Staat abtreten. Der staatliche Bodenbesitz wird 2003 geregelt, so dass alle öffentlichen Einrichtungen der damaligen portugiesischen und indonesischen Verwaltungen automatisch Staatsbesitz werden. Seit 2017 ist das allgemeine Eigentum an Grund und Boden geregelt. Brachliegendes Land, verlassene Gebäude oder Privatgrundstücke ohne bekannten Eigentümer gehören von nun an dem Staat. Das nationale Grundbuchregister wird eröffnet und Urkunden können an die Eigentümer:innen des Bodens erstellt werden. Zudem wird bestimmt, wie Boden für nationale Interessen enteignet wird. Gleichzeitig startet das Programm „Nationales Katastersystem“ (SNC), mit dem alle öffentlichen und privaten Grundstücke in Osttimor vermessen und systematisch registriert werden sollten. Dies ermöglicht denjenigen Menschen, die bis anhin keine Dokumente besitzen, ihre Eigentumsrechte für Grund und Boden zu erhalten.

Registrierung der Grundstücke
Das Komitee des SNC holt die Eigentumserklärungen ein: Eigentümer:innen hinterlegen ihre Besitzurkunden, einen anderen schriftlichen Beweis, dass ihnen dieses Grundstück gehört, oder händigen ein entsprechendes Formular ein. Dieses muss von drei Zeug:innen und zwei Personen der Gemeindeverwaltung (Dorfvorsteher:in, Gemeindepräsident:in oder Verwalter:in) unterschrieben werden. Sobald mehrere Personen dasselbe Grundstück anmelden, wird hierzu verhandelt und eine Vereinbarung ausgearbeitet, die den Bodenbesitz regelt.
Anschliessend werden die Grundstücke vermessen, in eine Karte eingetragen und eine Liste aller Besitzer:innen erstellt, die dem Staat wie auch Gemeindevertretenden vorgelegt werden. Sie haben 30 Tage Zeit, um die übrig gebliebenen Gebiete als staatlichen Eigentum anzumelden. Danach werden die Verzeichnisse öffentlich aufgelegt. Während 60 Tagen können sich neue Bodenbesitzer:innen melden oder Änderungen zu den Vermessungen eingeben. Auch diese Informationen werden publiziert, aufkommende Streitfälle gelöst, bis das Kataster vollständig ist. Ende 2019 hätten alle Grundstücke Osttimor vermessen sein sollen, was jedoch nicht der Fall ist.

Hürden der Registrierung
Das Netzwerk zu Landrechten kritisiert das SNC-Programm. Es ist undurchsichtig, da das SNC einerseits den Bekanntmachungsprozess der Bodenbesitzer:innen nicht immer einhält und andererseits die Öffentlichkeit nicht korrekt informiert. Menschen, die ihre Rechte und Pflichten nicht kennen, um ihr Grundstück zu registrieren, bleiben zurück. Zudem riskieren sie, ihr Land zu verlieren, wenn sie sich nicht rechtzeitig und korrekt über ihr Grundstück aussprechen. Die Fortschritte des Programms werden nicht regelmässig statistisch festgehalten und keine Jahresberichte veröffentlicht. Das Programm wird ungenau umgesetzt. Überdies werden die meisten Besitzurkunden an Männer vergeben und die Frauen bleiben unberücksichtigt zurück.
Das Netzwerk zu Landrechten setzt sich vehement dafür ein, den Prozess transparent zu machen, damit Korruption verhindert, Abläufe verbessert und das Vertrauen der Bevölkerung gewonnen wird. Dies versuchen sie durch Öffentlichkeitsarbeit, gezielten Trainings in Gemeinden und Advocacy-Arbeit zu erreichen. So fordert das Netzwerk zu Landrechten im Fall der aktuellen Räumungen im Zusammenhang mit dem Papstbesuch die Regierung auf, sich an die Gesetze zu halten und bei den Räumungen der Häuser, den betroffenen Menschen eine Alternative anzubieten, und sie unterstützen die Betroffenen im Einfordern ihrer Rechte.
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[1] https://redebarai.org/?page_id=134

Literaturhinweis
- Gesetzliche Lage:
- Recht auf Privateigentum (Art. 54 TL-Verfassung)
- Recht auf adäquates Wohnen (Art. 58 TL-Verfassung)
- Staatlicher Besitz von Grund und Boden (Gesetz 01/2003)
- Eigentumsbestimmungen von Grund und Boden (Gesetz 13/2017)
- Enteignung von Immobilien (Gesetz 08/2017)
- Regelung der Urkunden mit Katasteraufnahme (diploma ministral 45/2016; 46/2016; 32/2023)
- Prozess zur Entwicklung der Rechtslage des Landbesitzes in Osttimor: https://www.laohamutuk.org/Agri/land/17LandTe.htm [Stand 25.06.2024]
- Anne Hennings: Kontext und Land Gouvernance: https://landportal.org/book/narratives/2021/timor-leste [Stand 25.06.2024]
- Fünf Merkblätter zum SNC-Programm seitens Rede Ba Rai: http://redebarai.org/?m=20190707 [Stand 25.06.2024]
Gewalt – der rote Faden im Leben der Frauen in Timor-Leste
Gewalt – der rote Faden im Leben der Frauen in Timor-Leste
Von Pia Caduff. Dili, Timor-Leste
«Eigentlich haben wir nur für etwa 60 Klientinnen Platz, aber zurzeit wohnen 64 Frauen und 16 Kinder hier,» sagt Madre Santina, die das Frauenhaus Uma Mahon in Salele, im Südwesten von Timor-Leste leitet. Die zierliche aber vor Energie sprühende Nonne ist schon seit 2005 hier und empfängt uns herzlich mit zwei Mitschwestern.

Uma Mahon nimmt Frauen auf, die Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt geworden sind. Darunter sind Frauen, die häusliche Gewalt erfahren haben, aber auch viele meist Minderjährige Opfer sexueller Gewalt und Inzest. Einige sind schwanger und gebären ihre Kinder im Frauenhaus in Salele.
Gewalt gegen Frauen zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der patriarchalischen Gesellschaft von Timor-Leste: Die portugiesische Kolonialzeit hat vorbestehende patriarchalische Strukturen gefestigt und sowohl die japanische Besatzung im Zweiten Weltkrieg wie die indonesische Besatzung von 1974-1999 haben sich unter anderem durch konfliktbezogene, meist sexuelle Gewalt an den timoresischen Frauen einen traurigen Namen gemacht.
Timoresische Frauen wurden von der japanischen Armee während der Besatzung von 1942 bis 1945 zur Prostitution gezwungen. Die genaue Anzahl dieser Trostfrauen ist nicht bekannt, denn nur 12 Timoresinnen haben sich als solche zu erkennen gegeben und über ihr Leid gesprochen. Davon ist nur noch eine Frau am Leben und heute bereits über 90 Jahre alt. Verschiedene Organisationen haben sich dem Thema angenommen, darunter auch HAK. Neben der moralischen und materiellen Unterstützung der Frauen setzt sich HAK in Zusammenarbeit mit der japanischen NGO Japanese Coalition for Timor-Leste dafür ein, dass ihre Geschichte und die ihrer Leidgenossinnen in die timoresischen Geschichtsbücher Einzug finden. Entschuldigung und Entschädigung seitens der japanischen Regierung sind bis heute ausgeblieben.

«Die Frauen bleiben bei uns, bis das Gerichtsverfahren gegen ihre Peiniger abgeschlossen ist und sie stark genug sind, um wieder in ihr Dorf zurückzukehren» sagt Madre Santina vom Frauenhaus Uma Mahon. «Dazu gehört häufig auch ein Versöhnungsverfahren, denn unverheiratete Frauen haben keine andere Wahl, als zurück in ihre ursprüngliche Familie zu gehen. Deshalb arbeiten wir auch mit den Tätern.»
Die Aufenthaltsdauer in Uma Mahon beträgt ein bis zwei Jahre und in dieser Zeit erhalten die Frauen nicht nur viel Unterstützung, sondern auch Ausbildung: es werden schulische und praktische Weiterbildung angeboten, so dass sie später eine Möglichkeit haben, selbst ein kleines Einkommen zu generieren.
Auch während der 24 Jahre dauernden indonesischen Besatzung war Zwangsprostitution weit verbreitet. Die betroffenen Frauen und die Kinder, die dabei gezeugt wurden, leiden noch heute unter dem Trauma der erlittenen Gewalt und der daraus folgenden Stigmatisierung. Manuela Pereira, Direktorin von AcBIT, einer NGO, die sich der Aufarbeitung dieser Verbrechen und der Unterstützung der betroffenen Frauen verschrieben hat, erzählt uns, dass die Kinder dieser Frauen jeweils keine Geburtsurkunde erhielten, dass die Frauen geächtet wurden und zum Teil immer noch werden, obwohl durch ihr Opfer manch einer Dorfgemeinschaft Schlimmes erspart blieb.
Noch heute wird Gewalt gegen Frauen häufig auch von Frauen selbst als normal und als legitim angesehen: gemäss der Nabilan Studie der Asia Foundation von 2015[1] waren damals 80% der befragten Frauen der Meinung, dass ein Ehemann seine Frau schlagen darf, und dass sie intime Beziehungen dem Ehemann nur aus gesundheitlichen Gründen verweigern darf.

Sexuelle Belästigung und Gewalt ist in Timor-Leste zwar eine Straftat – rund 50% der Gefängnisinsassen sind wegen Sexualverbrechen verurteilt – doch es wird den Frauen nicht einfach gemacht, Anzeige zu erstatten. Häufig werden sie auf dem Polizeiposten abgewimmelt oder unter Druck gesetzt, auf eine Anzeige zu verzichten, Aufklärungen werden verschlampt und das Justizsystem ist völlig überlastet, so dass in vielen Fällen, die Familien der Frauen sich an die Instanzen der traditionellen, informalen Justiz wenden, die die Frauen stark benachteiligen.
«Wir ermutigen die Frauen die Täter anzuzeigen und unterstützen sie bis zum Abschluss des Verfahrens. Sind sie schwanger, so gebären sie ihr Kind im benachbarten Ambulatorium und behalten es bei sich in Uma Mahon. Zurück ins Dorf gehen sie erst, wenn sie dazu bereit sind», erklärt Madre Santina.
Die 44 (!) Organisationen, die sich um Frauenanliegen kümmern, haben sich zu einem Verband, Rede Feto Timor-Leste, zusammengeschlossen. Einige sind nur in einzelnen Dörfern tätig, andere auf nationaler Ebene. Zu den letzteren gehört FOKUPERS[2], eine Frauenrechtsorganisation, die 1997 als «Frauenabteilung « von HAK gegründet wurde und inzwischen selbstständig und als Verein organisiert ist. Zu Beginn kümmerte sich die Organisation um Opfer der indonesischen Besatzung, um weibliche Gefangene und um die Ehefrauen der Gefangenen. Heute liegt ihr Fokus auf häuslicher und sexueller Gewalt, mit drei Ausrichtungen: Öffentlichkeitsarbeit, Unterstützung der Opfer (victim empowerment) und frühkindliche Erziehung. Der Verein betreibt Kinderhorte, um alleinerziehende Frauen zu entlasten, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen und vier Frauenhäuser, zwei in Dili und zwei ausserhalb, eines davon im Auftrag der Regierung.
Bemerkenswert ist, dass Timor-Leste trotz seiner ausgesprochen patriarchalischen Gesellschaft und einer sehr hohen Rate geschlechtsspezifischer Gewalt gleichzeitig auch einen in Südostasien aussergewöhnlich hohen Anteil Frauen im Parlament vorweisen kann: Dank einem Quotensystem sind zurzeit 38.4% der Parlamentarier*innen Frauen (was ziemlich genau dem Frauenanteil im Schweizer Nationalrat entspricht).
Der ausgezeichnete Kuchen, der uns mit Tee und Kaffee angeboten wird, haben die Frauen im Rahmen ihrer Weiterbildung im Uma Mahon gebacken und die Schwestern ermuntern uns, das, was übrigbleibt mitzunehmen. Ich frage Madre Santina, ob wir den Kuchen nicht für die Kinder und ihre Mütter lassen sollten. Sie lächelt und meint: «Natürlich essen sie gerne Kuchen, aber für ihr Selbstwertgefühl ist es viel wichtiger zu sehen, dass Sie ihren Kuchen so sehr gemocht haben, dass Sie die Resten mitnehmen».
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[1] https://asiafoundation.org/publication/intimate-partner-violence-against-women-in-timor-leste/

Die wiederhergestellte Unabhängigkeit feiert Geburtstag
Die wiederhergestellte Unabhängigkeit feiert Geburtstag
Von Angela Escher. Dili, Timor-Leste

Kizomba-Musikklänge strömen aus den grossen Boxen, die auf beiden Seiten der Bühne aufgebaut sind. Ein Dutzend Paare bewegen sich vor der Bühne zu den rhythmischen Klängen. Links und rechts der tanzenden Paare sitzen Menschen im Schatten, beobachten die Tanzenden oder unterhalten sich. Sobald die Klänge verstummen, folgt Musik mit schnellerem Rhythmus. Das Publikum jubelt, springt auf und stürmt auf den sonnigen Tanzplatz. Über zweihundert Gefangene, ein paar ihrer Familienangehörigen und einige Gefängniswärter:innen tanzen gemeinsam eine Macarena-ähnliche Tanzperformance. Alle scheinen den Tanz zu kennen und sich prächtig zu amüsieren.

Wir sind im Gefängnis Bekora, dem grössten der drei Gefängnisse Osttimors, das an der Stadtgrenze zu Dili, der Hauptstadt, liegt. Über 400 Gefangene sitzen hier ihre Strafe ab, ausgelegt ist es für 250. Die Mehrheit der Gefangenen – über 300 – sind wegen sexuellen Übergriffen oder Vergewaltigung angeklagt und ungefähr 60 wegen Mordes. Rund 70 der Gefangenen sind noch in Untersuchungshaft.
«Der 20. Mai ist unser Unabhängigkeitstag. Den feiern wir und möchten, dass auch die Gefangenen an diesem Tag etwas Spezielles erleben dürfen. Sie sollen diesen Tag auch feiern dürfen», erklärt mir Sabino Mendonça im Taxi auf der Hinfahrt zum Gefängnis. Sabino arbeitet bei HAK als Koordinator Bildung und Publikation. Er ist unter anderem für das Lobbying der Gefängnisbeobachtungen gegenüber dem Parlament und der Regierung verantwortlich. In regelmässigen Abständen besucht HAK die drei Gefängnisse, spricht mit den Gefängnisdirektoren und einzelnen Wärter:innen und interviewt Insassen. Die Herausforderungen in den Gefängnissen sind gross. In Bekora sind die Besuchsrechte intransparent geregelt. Es gibt keine Überwachungskameras in den Blöcken, wodurch unklar bleibt, was sich nachts in den Zellen abspielt. Die Küche und die Lagerung der Lebensmittel sind bedenklich. Die Jugendlichen erhalten weder Ausbildungs- noch Freizeitbeschäftigungen gemäss der internationalen Standards. Diese kritischen Beobachtungen teilt HAK mit der Regierung und den Parlamentsabgeordneten, tauscht sich mit anderen ebenfalls im Gefängnis tätigen Organisationen aus und informiert die Bevölkerung über die beobachteten Zustände. Seit Anfang April begleitet Peace Watch Switzerland HAK insbesondere bei dieser Arbeit.

Seit Jahren unterstützt HAK auch die Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag in den Gefängnissen. Heute fahren wir zu viert ins Gefängnis Bekora, um daran teilzunehmen. Am 20. Mai 2002 erhielt Osttimor seine Unabhängigkeit nach 24 Jahren indonesischer Besatzung zurück. Seither wird dieser Tag im nun demokratischen Land ausgelassen gefeiert.
Der Vorhof des Gefängnisses ist für das Fest vorbereitet. Zelte und eine Bühne sind aufgestellt und in den timoresischen Farben – rot, gelb, schwarz – geschmückt. Der Fahnenmast steht in der Mitte des Platzes. Auf der einen Seite, unter einem grossen Zelt, sind über zweihundert grüne Plastikstühle aufgereiht. Gegenüber hat es merklich weniger Stühle. Diese sind in weisse Tücher gehüllt und mit violetten Schleifen umwickelt. Zwei Reihen. Daneben stehen drei Sofas. Später werden wir auf diesen Platz nehmen.
Punkt neun Uhr beginnen die Festlichkeiten. Sogleich werden die Gefangenen in den Vorhof geführt. Anstelle von kurzen Hosen und Flipflops, wie sonst üblich, tragen sie heute lange Hosen und geschlossene Schuhe. Die Untersuchungshäftlinge haben hellblaue T-Shirts angezogen, die verurteilten Insassen schwarze und die jugendlichen Insassen rote. Bei allen steht auf der Rückseite in grossen, gelben Buchstaben das Wort «PRISIONEIRO» – Gefangener. Vereinzelt ist der Schriftzug jedoch schon abgebröckelt. Die Mehrheit der Gefangenen nimmt auf den grünen Plastikstühlen Platz. Vor ihnen positionieren sich drei Blöcke mit jeweils zehn Männern pro Reihe in drei Reihen.
Sie werden pro Block von einer Gefängniswärterin angeführt, die sie auffordert, stramm zu stehen. Bewusst hat sich der Gefängnisdirektor Julio Dias Ximenez dazu entschieden, dass die heutigen Feierlichkeiten von den Gefängniswärterinnen angeführt werden: «Bei der heutigen Zeremonie stellen wir die Geschlechtergerechtigkeit ins Zentrum und übergeben deshalb das Zepter unseren weiblichen Angestellten», erklärt er in seiner Ansprache. Anschliessend wird die Fahne gehisst. Dazu singen rund fünfzig Insassen auf der Bühne die Nationalhymne. Die strammstehenden Gefangenen wie auch die strammstehenden Wärter:innen harren eine Stunde in praller Sonne aus. Der Schweiss tropft.

Nach dem offiziellen Teil suchen sich alle einen Schattenplatz, während die Geburtstagsparty vorbereitet wird. Ein Tisch, mit roten, gelben und schwarzen Bändern dekoriert, wird vor der Bühne aufgestellt. Darauf stellen die Gefängniswärter:innen einen grossen mit Zuckerguss verzierten Kuchen und einige Champagnergläser. Vertreter:innen des Justizministeriums, der Familienangehörigen, der Gefängniswärter:innen sowie, Sabino, als Vertreter von HAK, lassen die Korken knallen. Der Champagner fliesst und spritzt alle um den Tisch stehenden Personen nass. Auf der Bühne spielt die Band das «Happy Birthday»-Lied. Das Publikum singt und klatscht in die Hände. Osttimor ist unabhängig – seit zweiundzwanzig Jahren! Ob in Gefangenschaft oder nicht, alle klatschen und singen. Sie sind stolz auf ihr demokratisches Land! Und genau mit dieser Euphorie tanzen die Gefangenen, ihre Familienangehörigen und die Gefängniswärter:innen wild durcheinander mehrere Stunden lang. Wenigstens an diesem feierlichen Tag scheinen die Herausforderungen im Gefängnisalltag in weiter Ferne zu sein.

Wer ist HAK?
Wer ist HAK?
Von Pia Caduff. Dili, Timor-Leste

Asosiasaun HAK ist eine Menschenrechtsorganisation in Timor-Leste, die 1996 während der indonesischen Besatzung von timoresischen und indonesischen Menschenrechtsaktivisten gegründet wurde, um politischen Gefangenen rechtliche Beratung und Unterstützung zukommen zu lassen. HAK ist ein Akronym in Bahasa Indonesia und steht für «Gesetz, Menschenrechte und Gerechtigkeit».
Die Organisation geniesst hohes Ansehen und mit ihrem Ursprung in der Zeit der indonesischen Besatzung, ist sie die älteste Menschenrechtsorganisation in Timor-Leste. Sie setzt sich für eine timoresische Gesellschaft ein, in der sich die Menschen in Frieden und Gerechtigkeit entwickeln können.
Über die Jahre hinweg hat HAK sein Tätigkeitsfeld den lokalen politischen und sozialen Entwicklungen entsprechend verlagert und erweitert: politische Gefangene soll es in Timor-Leste keine mehr geben. Doch der junge Staat, der in dieser Form erst seit 2002 besteht, muss viele Probleme lösen, die Menschenrechte tangieren.

HAK engagiert sich auf mehreren Ebenen und führt zurzeit mehrere Programme, die teils noch Menschenrechtsverletzungen aus der Besatzungszeit betreffen:
- HAK ist Teil eines Netzwerkes zur Betreuung und Weiterentwicklung des Strafvollzuges. Die drei Gefängnisse des Landes, die in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit von Indonesien mit UN-Hilfe aufgebaut wurden, werden von HAK Mitarbeitenden je einmal pro Trimester besucht. Bei diesen Besuchen werden die Leitung der Strafanstalt, das Personal und die Insassen interviewt. Die Ergebnisse werden festgehalten, ausgewertet, fliessen in Empfehlungen und Forderungen an die Regierung ein und bilden die Basis für HAKs Öffentlichkeitsarbeit. HAK ist auch an der Weiterbildung des Anstaltspersonal beteiligt, was Menschenrechte betrifft. Zudem organisiert HAK Workshops für Gefangene, mit dem Ziel, sie über ihre Rechte zu informieren.
- HAK ist an einem Oeko-Landwirtschaftsprojekt beteiligt, das zur Versorgungssicherheit des Landes beitragen und die Rechte der einheimischen Bevölkerung garantieren soll. Darunter fallen Landrechte, Zugang zu Produktionsmittel, und faire Preise.
- Im Rahmen der Aktivitäten von Rede Ba Rai, einem Netzwerk von 24 NGOs, das auf Landrechte fokussiert, engagiert sich HAK bei Landstreitigkeiten, die aufgrund der bewegten Vergangenheit, mit widersprüchlicher Rechtslage und Verlust resp. Zerstörung der Kataster häufig sind.
- In Zusammenarbeit mit der Japan Coalition for East Timor unterstützt HAK die ehemaligen timoresischen Trostfrauen, die im Zweiten Weltkrieg analog zu den koreanischen Frauen, von den japanischen Besatzer als Liebesdienerinnen versklavt wurden. Lediglich 12 timoresische Trostfrauen haben sich als solche zu erkennen gegeben und davon lebt zurzeit noch eine Einzige. Diese Überlebende und die Familien der anderen Trostfrauen warten immer noch auf eine offizielle Entschuldigung, auf die Anerkennung des Leides, das ihnen angetan wurde und auf eine Wiedergutmachung.
- Zusammen mit anderen Menschenrechtsorganisationen in Timor-Leste und Indonesien arbeitet HAK seit Jahren aktiv am Familienwiedervereinigungsprogramm «Gestohlene Kinder» mit. Während der indonesischen Besatzung, speziell in den späten 1970er Jahren, wurden Tausende timoresische Kinder von ihren Familien getrennt und nach Indonesien verschleppt. Die genaue Anzahl ist unbekannt, die Schätzungen liegen je nach Quelle zwischen 2’000 und 4’000 mit einer hohen Dunkelziffer. Bisher konnten um die 100 ehemalige Kinder identifiziert, lokalisiert und mit ihren timoresischen Familien zusammengebracht werden.
- Zur Verbesserung des Zuganges der ruralen Bevölkerung zu (Trink)Wasser und sanitären Einrichtungen läuft in einem Distrikt ein Projekt in Zusammenarbeit mit und finanziell unterstützt durch Water Aid Australia.
- Im Rahmen des Rechts auf Bildung erhebt HAK Daten zur Schulinfrastruktur: Anzahl Schulhäuser, inkl. Sanitäreinrichtungen und Wasserversorgung, Anzahl Lehrpersonen und Anzahl Schulmahlzeiten. HAK führt auch gelegentlich selbst Workshops für Jugendliche zu Menschenrechtsthemen durch.
- HAK erhebt auch Daten zur mobilen Gesundheitsversorgung: abgelegene Distrikte werden alle 3 Monate von einer mobilen medizinischen Equipe besucht, die dort Sprechstunden abhält. Dies ist eine notwendige Ergänzung zur sehr bescheidenen Gesundheitsversorgung in Timor-Leste.

Asosiasaun HAK wird finanziell durch den timoresischen Staat unterstützt, z.B. für das Monitoring in den Gefängnissen oder für Initiativen zur Stärkung der Zivilgesellschaft. Andere Programme werden durch Kooperationen mit ausländischen Organisationen und dank Zuschüssen von verschiedenen Geldgebern im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit finanziert.
HAK ist inzwischen als Verein organisiert mit einem Vorstand und einer Finanzaufsicht. Die Büroräumlichkeiten befinden sich in einem alten Haus aus der portugiesischen Kolonialzeit im Quartier Faról, in dem sich sinnnigerweise auch eine «Menschenrechtsstrasse» befindet (Rua dos Direitos Humanos).

Wir werden uns in den kommenden Monaten mit Aktivitäten von HAK vertraut machen, indem wir die Organisation täglich bei ihrer Arbeit begleiten, wobei das Monitoring der Zustände in den Gefängnissen ein wichtiger Schwerpunkt bildet.
